Hoch in den Bergen kann man die Adler manchmal beobachten. Ihre riesigen
Flügel können zwei Meter breit werden. Kaum ein Mensch hat ihr Nest je aus der
Nähe gesehen. Das Nest liegt versteckt in den Felswänden.
Meist legen die Adler zwei Eier. Und wenn diese ausgebrütet sind, haben der
Vatervogel und der Muttervogel viel zu tun. Sie fliegen hin und her auf der
Suche nach Nahrung für die kleinen Adler.
Aber dann, so erzählt man, geschieht etwas Besonderes.
Die großen Vögel bleiben weg. Sie lassen ihre Jungen allein. Nicht nur für ein
paar Stunden, sondern ganze Tage lang. Die Jungen piepen und werden immer
ängstlicher. Sie haben Hunger. Werden sie sterben?
Wenn sie beinahe ganz erschöpft sind, dann hören die den Flügelschlag des
Vaters.
Er fliegt hoch über dem Nest. Sie sind nicht verloren. Und nun ist auch
die Mutter wieder da. Die Jungen strecken ihren mageren Hals und sperren den
Schnabel auf.
Doch die Mutter tut etwas Unerwartetes. Sie fliegt auf das Nest zu. Und
schon ist es geschehen. Sie hat den einen kleinen Adler aus dem Nest gestoßen.
Ängstlich flattert er mit seinen schwachen Flügeln. Aber er hat noch
keine Kraft.
Eine Zeitlang hält er sich in der Luft, dann lassen ihn seine Flügel im Stich.
Er beginnt zu stürzen.
Auf diesen Augenblick hat der Vater gewartet. Rasch fliegt er herbei,
streift den kleinen Adler von unten und fängt ihn mit seinen Flügeln auf. Er
bringt ihn zum Nest zurück.
Gleich darauf fliegt die Mutter wieder auf das Nest zu und scheucht den
anderen Adler über den Rand. Auch er taumelt ein wenig in der Luft, flattert
mit seinen Flügeln und muss dann aufgeben.
Auch dieses Junge lässt der Vater auf seinen Flügeln notlanden und trägt
es ins sichere Nest zurück.
So geht das nun jeden Tag ein paar Mal, bis die Jungadler stärkere Flügel
haben und selbst fliegen können.
(nach
Willi Hoffsümmer)
Ich denke,
was für natürliche Eltern gilt, das gilt ebenso für geistliche Elternschaft –
für geistliche Mutterschaft.
Katharina
Kasper ist geistliche Mutter vieler Töchter – bis heute. In besonderer Weise
gilt das für die jungen Schwestern der
Kongregation, von denen die meisten in Missionsländern leben und wirken. Sie
gibt ihnen Nestwärme durch ihr eigenes Vorbild und durch ihre geistliche
Weisung Nahrung – bis heute. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, das Fliegen zu
lernen, schubst Katharina ihre Töchter aus dem Nest – damals wie heute. Früher
hat sie es selbst gemacht: aus der Geborgenheit des Noviziates werden die jungen
Frauen in nicht selten sehr anspruchsvolle Aufgaben „geschubst“. Heute
übernehmen dies die Frauen, die im Geiste Katharinas Leitungsaufgaben
wahrnehmen.
Manchmal
tut das Schubsen weh. Aber nur, wenn der junge Adler aus dem Nest fällt, kann
er das Fliegen lernen.
Und der
geistliche Vater, der den jungen Adler auffängt?
Klar, alle
Vergleiche hinken irgendwo. Aber ich wage zu behaupten: Es ist Gott selbst, der
den jungen Adler auffängt, ihn auf seinen Flügeln notlanden lässt und in die
Sicherheit zurückträgt.
Wie auf
Adlerflügeln getragen – Katharina macht diese Erfahrung; und diese Erfahrung gibt
sie an ihre Töchter weiter, die diese Erfahrung machen, wenn sie bestrebt sind,
Nachfolgerinnen Katharinas zu sein und immer mehr zu werden.
STH