Eine kleine
Fabel erzählt von einem jungen Adler. Man hatte ihn aus dem Nest gestohlen, um
ihn an eine Stange zu ketten. Anfangs wehrte er sich gegen seine Fesseln, doch
mit der Zeit fand er sich mit seinem Los ab. Eines Tages entdeckte er hoch oben
am Himmel einen seiner Artgenossen. Dieser kam jeden Tag näher. Schließlich
streifte er den gefangenen Vogel mit seinen Flügeln. Durch diese Berührung
wurde in dem jungen Adler eine Kraft lebendig, die ihn mächtig an der Stange
zerren ließ. Dann riss er sich los und flog davon - in die Freiheit.
Katharina
Kasper weiß, dass der Mensch zum Adlersein berufen ist, und sie lebt ihr
Adlersein. Aber wie viele Menschen gibt es, die an eine Stange gekettet sind –
an die Stange der Unsicherheit oder des mangelnden Selbstbewusstseins, an die
Stange des Geldes oder des Aberglaubens, an die Stange der Beziehungslosigkeit
und der Beziehungsängste oder wie auch immer unsere Stangen heißen.
Katharina
weiß um alle diese Fesseln, mit denen der Adler Mensch gebunden ist. Und sie
weiß – was noch wichtiger ist! -, wie der Adler Mensch zur Freiheit befreit
werden kann. Es geht nur durch die Berührung eines Adlers, der sein Adlersein
lebt. Katharina ist so ein Adler-Mensch. Sie berührt die Menschen, denen sie
begegnet – Kinder, Kranke, Alte, Frauen, Männer – mit einer Liebe, die ihren
Ursprung in ihrer Liebe zu Gott hat. „Aus der wahren Gottesliebe erwächst
uns auch die wahre Nächstenliebe.“ (Brief
11)
Katharina berührt die
Menschen, denen sie begegnet, mit einer Freiheit, die ihr ihre Hingabe an Gott
schenkt. Sie kennt zum Beispiel keine Menschenfurcht. Ihr ist es egal, ob ihr
Gegenüber eine Gräfin, ein Bischof oder eine Fabrikarbeiterin ist. Alle werden
mit derselben Liebe behandelt, allen begegnet sie mit derselben Hochachtung und
Ehrfurcht.
Katharina berührt die
Menschen, denen sie begegnet – nicht zuletzt auch ihre Schwestern. Dafür gibt
es viele Beispiele. Aber dieses hier macht schon deutlich, mit welcher Liebe
und Freiheit sie ihnen begegnet. Sie schreibt einmal an eine Oberin: „Sind Sie denn auch den lieben Schwestern eine gute
Mutter, tragen so recht Sorge für jede, besonders, dass Sie gemeinschaftlich
die Liebe üben, ganz gleichförmig eine wie die andere behandeln, jede nach
Bedürfnis?“ (Brief 128) Katharina weiß: „Worte bewegen, aber Beispiele reißen
fort.“ (Brief 108) Und wenn das geschieht, - wenn er von Liebe und Freiheit
berührt wird - muss der Mensch seine
Fesseln zerreißen, er muss in die Freiheit fliegen, die letztlich Gott ist.
Von
Katharina können wir lernen, was es heißt, unserer Berufung zum Adler gerecht
zu werden und – wirklich frei zu werden …
STH