Von dem verlorenen Schaf ist am Sonntag die Rede. „Wenn
einer von euch hundert Schafe hat und eins davon verliert“, so fragt Jesus,
„lässt er dann nicht die neunundneunzig in der Steppe zurück und geht dem
verlorenen nach, bis er es findet?“ (Lk 15,4) Hand aufs Herz: Würden Sie
wirklich so handeln? Würden wir nicht tausend Entschuldigungen finden, warum
das nicht möglich ist? Schließlich ist dieses Schaf ja wahrscheinlich selber
daran schuld, dass es vom Weg abgekommen ist. Und man kann die anderen Schafe
ja nicht einfach irgendwelchen Gefahren aussetzen, wenn sie ohne Hirte bleiben.
Katharina Kasper hat sich oft und oft als gute Hirtin
gezeigt – wobei sie zuweilen das Risiko
einging, dass ihre Großzügigkeit wirkungslos an der Dickfelligkeit eines „verloren Schafes“ abprallte. Da kann
man viele, viele Beispiele anführen.
In einem solchen Falle ging es einmal um ein Stückchen Land
mit dem „Flächengehalt von 150 Schuh“.
Das ist wirklich nicht viel. Wegen dieses winzigen Stückchens Erde wurden drei
Briefe verfasst, und zwar einer an einen Rechtsanwalt, einen an den Nachbarn,
der das Kloster wegen dieses Fleckens angegriffen hatte, und einen an das
Bischöfliche Ordinariat in Limburg.
In dem ersten Brief versichert die Generaloberin dem
Rechtsanwalt ihres Nachbarn, dass das Kloster 1878 dem Besitzer des
Grundstückchens „um den Preis von 54 Mark
abgekauft“ habe. Dann fährt sie fort:
„denn es konnte uns doch nicht in
den Sinn kommen, auf fremdem Eigentum eine kostspielige Mauer aufführen zu
lassen.“ Als Zeugin für den Kauf nennt sie noch die Ehefrau des inzwischen
verstorbenen Eigentümers.
Doch der Schwiegersohn dieser Nachbarin gibt sich mit der
Erklärung nicht zufrieden, sondern verlangt, dass das Kloster die Mauer
abreiße. Wohl durch andere Bewohner Dernbachs veranlasst, erklärt er zwar
später, die Mauer dürfe stehenbleiben, doch ist er nicht bereit, dies dem
Kloster schriftlich zu erlauben. Da Katharina aber aus manchen Begegnungen
weiß, dass „verlorene Schafe“
manchmal unvermittelt ihre Meinung ändern, verzichtet sie nicht auf die
schriftliche Erklärung, sondern lässt die Mauer entfernen. Dem Nachbarn teilt
sie jedoch mit: „Indem wir Ihnen dieses
hierdurch anzeigen, können wir nicht umhin, zugleich gegen diesen uns
auferlegten Zwang Protest zu erheben, da wir die volle Überzeugung haben, daß
die uns von Ihnen streitig gemachte Parzelle seiner Zeit gekauft und bezahlt
worden ist und müssen es Ihrem Gewissen überlassen, über diesen Schritt nachzudenken.“
Das ist im Juni 1896.
Ein halbes Jahr später errichtet der Nachbar dicht neben dem
Kloster einen Neubau, ohne jedoch die freigewordene Parzelle für den Bau zu
nutzen. Da er sich wohl bewusst ist, nicht den nötigen Abstand zum Kloster zu
wahren, ersucht er das Bischöfliche
Ordinariat, für ihn Katharinas Zustimmung zu seinem Projekt zu erwirken.
Katharina Kasper erteilt die erbetene Erlaubnis bereitwillig, äußert aber in
ihrem Antwortschreiben ihr Erstaunen darüber, dass der Nachbar „keinen Anstand nimmt, auch den neben der Kloster-Ökonomie in
einer Breite von ca 0,80 Meter sich hinziehenden Streifen, der 18 Jahre
hindurch in ungestörtem Besitze des Klosters und mit einer Mauer versehen, aber
nicht überschrieben war, zu seinem Bau mitzubenützen; aber wir können und
wollen ihn daran nicht hindern, nachdem wir schon seiner uns angedrohten Klage
und seinen für uns unannehmbaren Vergleichungsbestrebungen durch Abbruch der
Mauer und Räumung des Platzes aus dem Wege gegangen sind.“
Damals war das sicher nicht so lustig, wie es sich heute
liest. Aber dieser kuriose Fall zeigt, dass es Guten Hirten zuweilen selbst mit
großer Geduld und Klugheit nicht gelingt, ein „verlorenes Schaf“ zu der Einsicht zu bringen, dass es ein Schaf
ist.
STH