Katharina adlergleich

Katharina adlergleich
Vergiss nicht, dass du Flügel hast ...

Samstag, 23. August 2014

Dürfen wir nicht müde sein?

„Wenn man in der Nacht durch eine Gasse spazieren geht, und ein Mann, von weitem schon sichtbar - denn die Gasse vor uns steigt an und es ist Vollmond - uns entgegenläuft, so werden wir ihn nicht anpacken, selbst wenn er schwach und zerlumpt ist, selbst wenn jemand hinter ihm läuft und schreit, sondern wir werden ihn weiter laufen lassen.
     Denn es ist Nacht, und wir können nicht dafür, dass die Gasse im Vollmond vor uns aufsteigt, und überdies, vielleicht haben diese zwei die Hetze zu ihrer Unterhaltung veranstaltet, vielleicht verfolgen beide einen dritten, vielleicht wird der erste unschuldig verfolgt, vielleicht will der zweite morden, und wir würden Mitschuldige des Mordes, vielleicht wissen die zwei nichts von einander, und es läuft nur jeder auf eigene Verantwortung in sein Bett, vielleicht sind es Nachtwandler, vielleicht hat der erste Waffen.
     Und endlich, dürfen wir nicht müde sein, haben wir nicht so viel Wein getrunken? Wir sind froh, dass wir auch den zweiten nicht mehr sehn.“

Franz Kafka
Diese Parabel von Franz Kafka stammt aus dem Jahre 1908. Ist sie nicht hochaktuell? Können wir uns nicht wiederfinden in dem Mann, der sich heraushalten will und unendlich viel Ausreden, Entschuldigungen, Rechtfertigungen findet, damit ihm das gelingt?
Das ist sicher: Katharina Kasper hat den armen, schwachen, leidenden Menschen gesehen. Und sie dankte dafür, dass sie sah und packte an.
Kafka kritisiert die Haltung des Sich-heraushaltens, des Sich-nicht-einmischens. Aber diese Haltung ist doch ganz menschlich. Was könnte, sollte uns bewegen, es anders zu machen? Vielleicht hat der Jude Kafka jenes große Gebot im Hinterkopf gehabt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken und deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Dtn 6,5, Lev 19,18) Und Katharina Kasper? Ihr ganzes Leben ist ein Zeugnis für ihre Motivation, so zu handeln, wie sie es getan hat. Und viele ihrer Briefe machen deutlich, woher sie ihre Kraft und - ja, und auch die Legitimation des Eingreifens nahm. Im März 1890 schreibt sie z.B. an Schwester Martha in den USA:

„Ich gebe Ihnen den Rat für jede Stelle und jede Handlungsweise: dem lieben Gott sich überlassen, alles aus Liebe und zur Ehre Gottes tun zu wollen, so wird der liebe Gott Ihnen allezeit zu Hilfe kommen. Er wird Sie erleuchten, das Rechte zu erkennen, und stärken, dasselbe auszuüben; aber auch tröstet uns Gott. So gehen Sie denn in aller Demut und im Vertrauen auf Gott mit kindlicher Liebe von einem Tage zum andern weiter, und Sie werden sehen und erfahren, dass es besser geht und dass alles Schwere leicht wird.“ (Brief 169)

Wir leben in einer Zeit, in der die Nacht schon weit fortgeschritten ist. Aber es ist Vollmond. Wir sehen. Wir sehen z.B. den zunehmenden Werteverlust, die zunehmende Missachtung des menschlichen Lebens, die zunehmende Glaubenslosigkeit. Wir sind müde, - ja, natürlich. Aber ist das ein Grund, sich nicht einzumischen? Haben wir der Nacht nicht unendlich viel entgegenzusetzen? Nur - sind wir überhaupt selbst noch davon überzeugt?

Dürfen wir nicht müde sein? Nein, denn es geht um mehr als darum, dass es dem einzelnen gut geht. Es geht um den Menschen und seine Würde. Es geht um Gott, den Freund des Lebens, der Mensch wurde, damit wir als Menschen leben können.

STH